Mit Introvision den Alarm im Gehirn ausschalten

Eine Sirene, die erhöht an einem Metallstab befestigt ist.

Bei Stress- oder Angstsituationen reagiert der Körper sofort mit „Alarm“. Diesen über den Verstand „auszuschalten“, klappt jedoch häufig nicht. Stattdessen geraten wir immer wieder in die gleichen hinderlichen Muster. Introvision ist eine noch wenig bekannte Methode, um diese inneren Muster aufzulösen. Was Introvision ausmacht und wie es funktioniert, wird im Folgenden dargelegt.

Eine Klientin hat folgende Geschichte: Ihr Bruder, an dem sie außerordentlich hing, litt an Krebs. Als sie zehn Jahre alt war, wurde sie überraschend aus der Schule nach Hause geschickt, angeblich, weil die Mutter Geburtstag habe. Sie wusste sofort, dass das nicht stimmen konnte, machte sich aber die große Hoffnung, der Bruder sei aus dem Krankenhaus entlassen worden. Zu Hause angekommen, merkte sie, dass die Mutter sehr bedrückt war. Das Kind erfuhr, dass der Bruder gestorben war. Sie schilderte, dass niemand in der Familie weinte. Mit der Begründung, sie sollte den Bruder so in Erinnerung behalten, wie sie ihn gekannt hatte, ließ man sie nicht mit zur Beerdigung. Die Klientin vermutet, dass die Familie befürchtete, sie könne mit der Situation überfordert sein. Wahrscheinlich waren es die Eltern, die überfordert waren. Es wurde nie wieder über den Tod des Bruders gesprochen.

Die Klientin entwickelte starke Verlustängste ihren späteren Partnern gegenüber. Es kam zu Panikattacken. Ihr Partner wusste sich im Laufe der Zeit nicht anders zu helfen, als mit Rückzug zu reagieren, wenn sie ihn mit ihrem Sicherheitsbedürfnis überforderte, was neue Panikattacken bei ihr auslöste.

Sie lernte schließlich die Methode der Introvision kennen, mit der sie wenige Wochen übte. Die Methode half ihr, ihre Verlustangst zu bewältigen. Auch das Verhalten ihres Partners triggerte diese Verlustangst nicht mehr und sie erlitt keine weiteren Panikattacken. Das führte dazu, dass auch ihr Partner sein Verhalten ändern konnte und er sich nicht mehr sofort zurückzog, wenn es eine schwierige Situation gab.

 

Belastende Erlebnisse installieren einen „inneren Alarm“

Bei den meisten Therapien läuft es darauf hinaus, psychische Probleme über den Verstand zu lösen. Man glaubt, wenn Betroffene verstehen, was in der Psyche passiert, woher das Problem kommt, was es ursprünglich ausgelöst hat und welche Muster zur Aufrechterhaltung beitragen, befähige das die Menschen dazu, sich davon zu befreien. Das ist jedoch ein Ansatz, der dann gut funktioniert, wenn es sich um relativ leicht zu lösende Probleme handelt, sodass der Verstand, der im Großhirn beheimatet ist, rechtzeitig eingreifen kann.

Ein Junge hat sich auf der Couch unter drei Kissen vergraben und schaut ängstlich aus seiner Kissenhöhle hervor.

Verlustängste, Panikattacken, innerer Stress und viele belastende Probleme, die Menschen über Jahre begleiten, sind jedoch ausschließlich emotionaler Natur. Im Gehirn, genauer gesagt im entwicklungsgeschichtlich alten Teil, der Amygdala im limbischen System, haben sich tiefe Erinnerungsmuster ausgebildet. Diese Muster entstehen durch Begebenheiten oder Situationen, die von Betroffenen, oft in Kindheit oder Jugend, als traumatisch, schmerzhaft, beängstigend oder bedrohlich erlebt wurden. Sie führten dazu, dass „Alarme“ installiert wurden, die sich immer wieder dann melden, wenn die „Gefahr“ besteht, dass sich die ursprüngliche Situation wiederholen könnte.

Ein Alarm kann körperliche, mentale und emotionale Auswirkungen hervorbringen. Auf der Körperebene z. B.:

  • Heftiges Atmen oder Atemnot
  • Druck auf Brust oder Magen
  • Herzklopfen, Herzrasen
  • Schweißausbrüche
  • Zittern oder Verkrampfungen

Auf der mentalen Ebene z. B.:

  • Erinnerungen, die wachgerufen werden
  • Innere Beschimpfungen

Auf der emotionalen Ebene z. B.:

  • Weinen
  • Angstgefühle, Panik
  • Wut

 

Das limbische System sorgt fürs Überleben

Das limbische System hat die Aufgabe, für das Überleben des Menschen zu sorgen. Es ist wegen seiner überlebenswichtigen Funktion sehr viel schneller als das Großhirn. Außerdem ist aus neurologischen Forschungen, z. B. von Joseph Ledoux, bekannt, dass zwar viele Verbindungsbahnen vom limbischen System zum Großhirn, wo das Denken beheimatet ist, vorhanden sind, aber nur wenige solcher Verbindungen vom Großhirn ins limbische System. Das heißt, wenn aus dem limbischen System der Alarm kommt „Achtung – höchste Gefahr“ wird das Großhirn sofort davon „überwältigt“. Wohingegen die Meldung aus dem Großhirn nach logischer Überprüfung der Lage: „keine Sorge, alles in Ordnung“ gar keine Chance hat, rechtzeitig den Alarm mit all den damit verbundenen Folgen, wie etwa der Ausschüttung von Stress-Hormonen, zu verhindern.

Der Alarmzustand, in den jemand wie im obigen Beispiel geraten kann, ist eine Stressreaktion, die in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit eine überlebenswichtige Rolle gespielt hat. Denn die von der Amygdala initiierte augenblickliche Ausschüttung von Stresshormonen befähigt den Menschen, von Null auf Hundert Höchstleistungen zu erbringen, um zu fliehen oder zu kämpfen. Angesichts einer Bedrohung, etwa durch ein wildes Tier, brauchte der Urmensch nicht lange zu überlegen, was jetzt die beste Strategie wäre. Er hat ein für alle Mal gelernt: Sobald das bedrohliche Fauchen, Brüllen oder Knurren zu hören ist - rennen, was das Zeug hält. In der sicheren Höhle angekommen, brauchte er zwar ein Weilchen, um sich vom Adrenalinschock zu erholen, doch er war noch am Leben. Schon die Andeutung einer Gefahr löst den inneren Alarm und damit den Ausstoß von Stresshormonen aus.

Aufnahme eines gelben Fahrzeugs mit Blaulicht und dem Aufdruck AMBULANCE.

Der Sinn eines jeden Alarms besteht darin, eine Handlung hervorzurufen. Die Sirenen von Polizei, Feuerwehr und Krankenwagen sollen andere Verkehrsteilnehmende veranlassen, Platz zu machen. Die Alarmanlage in Häusern und Autos soll die Polizei oder andere Helfer herbeirufen. Wenn keiner auf den Alarm reagiert, ist er sinnlos (weshalb fast niemand mehr einen Auto-Alarm hat). Alarme, auch die, die im limbischen System ausgelöst werden, kosten Energie. Da unser Gehirn ein energiebewusstes Organ ist, schaltet es den Alarm ab, wenn es merkt, dass er ins Leere läuft.

 

Introvision sorgt dafür, dass der Alarm seine Wirksamkeit verliert

Introvision wurde vor mehreren Jahrzehnten von Prof. Dr. Angelika C. Wagner an der Universität Hamburg entwickelt, um solche Alarm-Reaktionen in den Griff zu bekommen – ursprünglich, um damit den Stress von Lehrer:innen zu bewältigen. Nicht durch Nachdenken, nicht durch den Entschluss, ruhig und entspannt zu bleiben, sondern durch die geniale Idee, sich innerlich in die stressige Situation hineinzuversetzen und dann nur zu beobachten, was dabei alles passiert, ohne etwas verändern zu wollen. Ganz einfach gesagt durch Nicht-Eingreifen!

Die Vorbereitung und die Durchführung des Introvision-Coachings (Anm. Red.: als kürzeres Coaching-Format der zeitaufwendigeren Methode Introvision) beinhaltet mehrere Schritte:

1. Erklärung, was Introvision ist und wie sie funktioniert.

2. Einüben der Haltung der „weiten Wahrnehmung“. Dazu eignen sich Übungen aus dem MBSR-Programm (MBSR = Mindfulness-Based Stress Reduction) nach Jon Kabat-Zinn.

3. Herausarbeiten des „richtigen Satzes“: Um Introvision-Coaching wirksam durchführen zu können, ist es von entscheidender Bedeutung, den „Schlüsselsatz“ zu finden, der bei den Klient:innen den Alarm auslöst. Denn ohne den Alarm zu erzeugen, kann man ihn nicht löschen. Das klingt vielleicht einfacher, als es ist, denn es kommt zwingend auf die richtige Wortwahl an. „Versagen“ und „scheitern“ z. B. sind zwei Vokabeln, die das gleiche aussagen, doch es kann sein, dass jemanden der Satz „Ich darf nicht versagen“ völlig gleichgültig lässt, während „Ich darf nicht scheitern“ ihn in helle Aufregung versetzt. Im Moment ist keine bessere Alternative bekannt, als mit einem stress-auslösenden Satz zu arbeiten.

Der Ausschnitt eines Frauengesichts, sie hat die Augen geschlossen.

4. Beobachten, ohne verändern zu wollen, was der Satz auslöst. Die Stärke des Alarms wird von den Klient:innen auf einer Skala von 1 bis 10 bewertet. Während etwa zehn Minuten - oder nur solange, wie sie in der Haltung der weiten Wahrnehmung bleiben können - werden die Klient:innen mit dem stress-auslösenden Satz konfrontiert. Nach diesem Setting werden die gemachten Erfahrungen rückbesprochen. Dann folgt ein zweites Setting, wobei der Alarm neu bewertet wird. Meist hat er sich bereits reduziert. Anschließend kann noch ein drittes Setting gemacht werden. Die Aufnahme der Anleitung bekommen die Klient:innen mit nach Hause. Sie erhalten die Aufgabe, konsequent täglich etwa zehn Minuten lang selbst zu üben, entweder bis der Alarm mindestens dreimal hintereinander bei „Null“ ist oder bis zur nächsten Coaching-Sitzung.

Wenn man auf einen Alarm reagiert, bestätigt man damit immer wieder, dass er gebraucht wird, also bleibt er erhalten. Im Introvision-Coaching hingegen werden die Klient:innen angeleitet, den Alarm wertfrei zu beobachten, mit allem, was er im Inneren an negativen körperlichen, seelischen und mentalen Auswirkungen auslöst. Das führt dazu, dass er sich auflöst, denn er ist ganz offenbar sinnlos geworden.

 

Zum Weiterlesen:

[Werbung] Wagner, A. (2021). Gelassenheit durch Auflösung innerer Konflikte. Mentale Selbstregulation und Introvision. Stuttgart: Kohlhammer.