Verhaltenssüchte nach ICD-11: Was verbirgt sich hinter Internetnutzungs-störungen?

Ein junger Mann in rosa Kapuzenpulli hält die ausgestreckte rechte Hand vor sich, über der ein blauer Controller schwebt.

Betroffene spielen exzessiv am Computer, vernachlässigen Freundschaften und Hobbies: In der ICD-11 wird die Störung durch Computerspielen erstmals als Diagnose aufgenommen. Wie lassen sich Internetnutzungsstörungen erklären? Welche Formen gibt es? Und welche Bausteine sind in der Behandlung wichtig? Der Artikel gibt einen Überblick über aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse und praxisnahe Erfahrungen.

Internetnutzungsstörungen (früher: Internetsucht) beziehen sich auf jedwede Art exzessiver, unkontrollierter und zu negativen Folgen führender Teilnahme an verschiedensten internetbasierten Aktivitäten. Gemessen an aktuellen Betroffenenzahlen sind es hier insbesondere Online-Computerspiele, die eine Rolle spielen. Aber auch die exzessive Nutzung von Online-Pornografie, sozialen Netzwerken und das exzessive Einkaufen in virtuellen Kaufhäusern sind häufige Erscheinungsformen. Wichtig ist, dass es nicht das Internet an sich ist, was mit einem Suchtverhalten einhergeht oder dieses provoziert. In der klinischen Praxis kann man in der Regel klar problematische oder suchtartige Nutzungsgewohnheiten abgrenzen. Patient:innen können also mit einer einzelnen Internetaktivität (z. B. Online-Spielen) nicht funktional umgehen, andere aber ganz kontrolliert für sich nutzen.

 

Wie häufig sind Internetnutzungsstörungen?

In Deutschland gibt es seit vielen Jahren methodisch gut angelegte epidemiologische Studien, die über das Ausmaß der Verbreitung von Internetnutzungsstörungen Auskunft geben. Hier zeigt sich, dass in repräsentativen Stichproben der Allgemeinbevölkerung etwa ein bis zwei Prozent ein suchtartiges Nutzungsverhalten aufweisen. Das Risiko einer Internetnutzungsstörung liegt unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen allerdings nochmals höher und beläuft sich auf etwa drei bis fünf Prozent, mit weiteren ca. fünf Prozent, die einen zumindest auffälligen Konsum digitaler Inhalte aufweisen. Neuere Prävalenzschätzungen weisen aus, dass Frauen fast genauso häufig betroffen sind wie Männer. Es sind lediglich die Formen von Internetnutzungsstörungen, die unterschiedlich repräsentiert sind.

Im Gegensatz zu Männern sind es bei weiblichen Betroffenen insbesondere soziale Netzwerke, die mit einer suchtartigen Nutzung in Zusammenhang stehen. Diese Problematik ist allerdings klinisch bislang nur wenig dokumentiert, da in spezialisierten Einrichtungen fast ausschließlich männliche Patienten erscheinen, wohingegen sich betroffene Frauen offensichtlich eher wegen anderer, womöglich sekundär bestehender Symptome wie depressiver Symptome und Angstsymptomen an andere Anlaufstellen wenden und dort das exzessive Nutzungsverhalten oftmals nicht thematisieren.

Ein junges Mädchen sitzt in einem dunklen Raum vor einem Computer und starrt auf den Bildschirm. Die rechte Hand liegt auf ihrer Maus, die linke auf der Tastatur.

Wie sind Internetnutzungsstörungen definiert?

Die Klassifikation und diagnostische Verortung wurden über viele Jahre hinweg sehr unterschiedlich gehandhabt. 2013 erfolgte mit der Veröffentlichung des DSM-5 eine erste Vereinheitlichung. Es ist zu begrüßen, dass nun auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 2019 verkündete, die „Störung durch Computerspielen“ (Gaming Disorder) als vollwertigen Diagnoseschlüssel in der ICD-11 zu berücksichtigen.

Entsprechend wird dieses neue Störungsbild in der ICD-11 als ein dauerhaft anhaltendes oder periodisch wiederkehrendes Nutzungsverhalten von Online- oder Offline-Computerspielen definiert, das

  1. nicht oder nur unzureichend der bewussten Kontrolle unterliegt,
  2. eine Priorisierung vor anderen Lebensbereichen, Alltagsaktivitäten und Interessen erfährt und
  3. wiederholt zu anhaltenden negativen Konsequenzen führt und dennoch fortgeführt wird.

Ergänzend heißt es in der ICD-11, dass Betroffene durch das Verhalten Einbußen im psychosozialen Funktionsniveau erleiden.

Die Diagnose findet sich in der ICD-11 gemeinsam mit einer weiteren Verhaltenssucht, der Störung durch Glücksspielen, umgeben von den klassischen Substanzabhängigkeiten. Entsprechend lautet der Name des einschlägigen ICD-11-Kapitels nunmehr: „Substanzgebrauchsstörungen und abhängige Verhaltensweisen“.

 

Relevanz für die Praxis

Was heißt dies nun für die Praxis? Es bedeutet, dass es mit der Einführung und offiziellen Gültigkeit der ICD-11 in Zukunft möglich sein wird, die zunehmend verbreitete suchtartige Nutzung von Computerspielen ordentlich zu verschlüsseln und nicht wie bisher auf behelfsmäßige und damit unspezifische Diagnoseschlüssel zurückgreifen zu müssen. In größerem Zusammenhang bedeutet die Anerkennung der Störung eine bessere Sichtbarkeit der Problematik. Auch für Betroffene sollte demnach in Zukunft eine leichtere Zugänglichkeit zum Hilfesystem möglich sein.

Zugleich ist es als etwas bedauerlich zu bewerten, dass abgesehen von der suchtartigen Nutzung von Computerspielen weitere Formen von Internetnutzungsstörungen nicht namentlich Eingang in die ICD-11 gefunden haben. Andererseits muss zugestanden werden, dass zu den diskutierten weiteren Formen, wie der suchtartigen Nutzung von sozialen Netzwerken, Online-Pornografie oder Online-Einkaufsportalen deutlich weniger wissenschaftliche Erkenntnisse und klinische Erfahrungswerte vorliegen als zur Störung durch Computerspielen.

Die Hände einer Person mit rot lackierten Fingernägeln sind zu sehen, mit der linken Hand bedient sie ihr Notebook und surft in einem Onlineshop, in der rechten Hand hält sie eine Kreditkarte.

Immerhin sieht die ICD-11 vor, unter der Residualkategorie „andere spezifische abhängige Verhaltensweisen“ auch die oben erwähnten Internetnutzungsstörungen zu verschlüsseln.

 

Was ist der Krankheitswert hinter der Diagnose?

Von Gegner:innen des Konzepts der Verhaltenssüchte allgemein und der Internetnutzungsstörungen im Speziellen wird immer wieder ins Feld geführt, dass die klinische Psychologie und Psychiatrie normale Freizeitverhaltensweisen pathologisieren und damit stigmatisieren würde. Insbesondere bei der Störung durch Computerspielen wurde von Vertreter:innen der Gaming-Industrie verstärkt angeführt, dass die Computerspiele von heute das Spiel mit Actionfiguren von damals schlicht ersetzt hätten und es somit nicht nachvollziehbar sei, darin eine Bedrohung der psychischen Gesundheit oder gar ein manifestes Krankheitsbild zu vermuten.

Abgesehen davon, dass die Forschung mittlerweile klar gezeigt hat, dass die oben wiedergegebene Analogie weitgehend sinnfrei ist und Computerspiele ein völlig anderes Stimulationsniveau entfalten als das Spielen mit Actionfiguren, zeigt die klinische Forschung sehr eindeutig, dass mit der Erfüllung der Kriterien einer Störung durch Computerspielen eine deutlich erhöhte psychosoziale und psychopathologische Symptombelastung einhergeht. Betroffene Kinder und Jugendliche weisen deutlich erhöhte Werte insbesondere hinsichtlich internalisierender Symptome auf, erleben eine ausgeprägtere undifferenzierte Stressbelastung, berichten von größeren Problemen im Umgang mit Gleichaltrigen und hinsichtlich ihrer schulischen Leistungsfähigkeit und liegen hinsichtlich psychosozialer Reifungsprozesse (Entwicklungsaufgaben) klar hinter Gleichaltrigen.

Wichtig bei diesen Befunden ist, dass die oben beschriebenen erhöhten Belastungswerte nicht mit der Nutzung von Computerspielen per se in Zusammenhang stehen, sondern wirklich nur dann gegeben sind, wenn die diagnostischen Kriterien einer suchtartigen Nutzung ganz oder in Teilen erfüllt sind.

Ein junger Mann sitzt mit Kopfhörern und Controller in den Händen auf der Couch und blickt gebannt nach vorn, am anderen Ende der Couch sitzt eine junge Frau, die ihn besorgt ansieht.

Auch bei Betroffenen im Erwachsenenalter zeigen sich ähnliche Auffälligkeiten. Neben erhöhten körperlichen und psychosomatischen Belastungen sind es insbesondere depressive Verstimmungen, erhöhte Angstwerte, Stressbelastungssymptome, Selbstwertdefizite und deutliche Einschnitte im psychosozialen Funktionsniveau, welche die Störung durch Computerspielen, aber auch andere Internetnutzungsstörungen flankieren.

 

Die Suche nach der Vulnerabilität

In vielen Ländern der Erde nutzen Menschen das Internet als Freizeitbeschäftigung. Insbesondere unter Jugendlichen liegt die Nutzungsrate bei annähernd 100 Prozent, bezogen auf Kommunikation, Spiele und allgemeine Unterhaltung. Wenn wir eine solche Konsumrate bezüglich bestimmter psychotroper Substanzen hätten, lägen die Prävalenzraten für entsprechende Abhängigkeitserkrankungen deutlich höher als jene von Internetnutzungsstörungen. Anders ausgedrückt: Nein, die Teilnahme an bestimmten Onlineaktivitäten scheint nicht für sich alleine betrachtet mit einer Suchtdynamik einherzugehen. Sie trägt aber ihren Teil dazu bei! Wie bei kaum einer anderen Suchterkrankung scheinen wir es bei den Internetnutzungsstörungen mit einem Zusammenspiel aus biopsychosozialen Faktoren zu tun zu haben.

Es scheint relativ gut belegt, dass bestimmte Persönlichkeitsmerkmale das Risiko, sich in virtuellen Welten zu verlieren, erhöhen. Hier sind es altersübergreifend eher introvertierte, ängstlichere und weniger selbststrukturierte Menschen, die ein erhöhtes Risiko besitzen. Weiter stellt eine ungünstige Mediensozialisation eine weitere Prädisposition dar. In der klinischen Praxis sind es eher Patient:innen, die lebensgeschichtlich schon früh einen kaum regulierten Zugang zu Unterhaltungsmedien aller Art hatten, die später einen exzessiven Konsum entwickelten. Auffälligkeiten in der Neurobiologie, etwa der dopaminergen und serotonergen Neurotransmission in kritischen kortikalen Strukturen, spielen eine zusätzliche Rolle.

Eine junge Person liegt mit dem Kopf auf einem Kissen und hält ihr Handy in der Hand, auf dessen Display sie schaut.

Obwohl mittlerweile verschiedentlich ätiopathologische Erklärungsansätze, wie etwa das kognitive I-PACE-Modell von Brand und Kollegen (2019) oder das psychotherapeutische InPrIS-Modell von Müller und Wölfling (2017) formuliert worden sind, bleiben uns die wesentlichen Vorgänge, die im Sinne eines Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs oder hinsichtlich des Wirkens aufrechterhaltender Faktoren Aufschluss geben könnten, noch weitgehend verborgen.

 

Welche Hilfen gibt es?

Auch wenn oben ausgeführt wurde, dass sich durch die Anerkennung von Internetnutzungsstörungen durch die WHO die Versorgungslandschaft hoffentlich weiterentwickelt, soll an dieser Stelle unterstrichen werden, dass bereits seit vielen Jahren eine Versorgung Betroffener möglich ist – nur eben nicht flächendeckend. Auch in Sachen Behandlung von Internetnutzungsstörungen konnten bereits wertvolle Erfahrungen gesammelt werden. So existieren mittlerweile sowohl für den kinder- und jugendpsychotherapeutischen Bereich als auch für erwachsene Patient:innen mehrere Behandlungsmanuale. Insgesamt, und dies geht auch aus ersten empirischen Übersichtsarbeiten und Metaanalysen hervor, erweisen sich verhaltenstherapeutische Ansätze als grundsätzlich wirksam.

Der ambulante verhaltenstherapeutische Ansatz sieht unter anderem die folgenden Behandlungsbausteine vor:

  • Ausführliche diagnostische Phase zur Abklärung bestehender psychosozialer Defizite und Ressourcen sowie bestehender komorbider Störungen
  • Ausbau und Etablierung einer Veränderungsmotivation und Erarbeitung einer (proximalen und distalen) Zielvereinbarung
  • Durchführung einer möglichst vollständigen Mediennutzungsanamnese (Makroanalyse: Identifikation von frühen Lernerfahrungen im Umgang mit der Nutzung, späteren Verlaufsmustern, lebensgeschichtlichen Auslösern eines exzessiven Konsums und gleichsam protektiven Faktoren)
  • Analyse des augenblicklichen Konsumverhaltens mit situativen Auslösern, assoziierten Gedanken, Gefühlen und Konsequenzerwartungen (im Sinne einer Mikroanalyse)
  • Anschließende Modifikation dysfunktionaler Kognitionen und Verhaltenskomponenten
  • Soziales Kompetenztraining
  • Stressbewältigungstraining
  • Emotionsdiskriminationstraining
  • Expositionsübungen und Identifikation von sog. „Craving-Skills“
  • Ausarbeitung eines individuellen Störungsmodells
  • Anschließende Etablierung von Strategien zur Rückfallprophylaxe

In einer randomisiert-kontrollierten Interventionsstudie von Wölfing und Kollegen (2019) zeigte sich, dass im Vergleich zu einer Wartegruppe die Behandlungsgruppe eine um den Faktor 10 erhöhte Wahrscheinlichkeit hatte, eine Remission der Suchtsymptomatik aufzuweisen. Die Studie fokussierte nicht nur auf das Störungsbild der suchtartigen Computerspielnutzung, sondern schloss auch andere Internetnutzungsstörungen ein. Allerdings war sie beschränkt auf männliche Patienten. Geschlechtssensible Behandlungsstrategien zu entwickeln und in die Anwendung zu bringen, ist vor dem Hintergrund der zuvor beschriebenen Epidemiologie von Internetnutzungsstörungen unzweifelhaft eine zentrale Aufgabe der Zukunft.

Daneben braucht es auch mehr empirisch gesicherte Erkenntnisse für therapeutische Herangehensweisen rechts und links klassischer verhaltenstherapeutischer Ansätze. Erste Ideen zur Behandlung im tiefenpsychologischen und auch psychoanalytischen Kontext wurden bereits formuliert. Nun wäre eine breitere Überprüfung deren Anwendbarkeit und Wirksamkeit nicht nur notwendig, sondern vermutlich auch vielversprechend und perspektivisch hilfreich. Gleiches gilt für Ansätze aus der sogenannten Dritten Welle der Verhaltenstherapie: Elemente der Well-Being-Therapie oder der Acceptance- und Commitment-Therapie scheinen nach ersten klinischen Erfahrungen und kleineren Interventionsstudien nutzbringend zu sein.

 

Dieser Artikel ist eine gekürzte Version des ursprünglich in der VPP aktuell erschienenen Artikels: Müller, Kai & Schneider, Kristin (2021). Verhaltenssüchte nach ICD-11. Online-Computerspiele – was verbirgt sich hinter Internetnutzungsstörungen? VPP aktuell, 55, S. 4-7.

 

Literatur

Brand, M., Wegmann, E., Stark, R., Müller, A., Wölfling, K., Robbins, T. W. & Potenza, M. N. (2019). The Interaction of Person-Affect-Cognition-Execution (I-PACE) model for addictive behaviors: Update, generalization to addictive be-haviors beyond Internet-use disorders, and specification of the process character of addictive behaviors. Neuroscience & Biobehavioral Reviews, 104, 1–10.

BZgA (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) (Hrsg.). (2017). Die Drogenaffinität Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland 2015. Teilband Computerspiele und Internetnutzung. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.

Müller, K. W. & Wölfling, K. (2017). Pathologischer Mediengebrauch und Internetsucht. Stuttgart: Kohlhammer.

Rumpf, H. J., Vermulst, A. A., Bischof, A., Kastirke, N., Gürtler, D., Bischof, G., Meyer, C. (2014). Occurence of internet addiction in a general population sample: a latent class analysis. European addiction research, 20(4), 159–166.

Scherer, L., Mader, L., Wölfling, K., Beutel, M. E., Dieris-Hirche, J. & Müller, K. W. (2021). Nicht diagnostizierte internetbezogene Störungen im psychotherapeutischen Versorgungssystem: Prävalenz und geschlechtsspezifische Besonderheiten. Psychiatrische Praxis, 48(08): 423–429.

Wölfling, K., Müller, K. W., Dreier, M., Ruckes, C., Deuster, O., Batra, A., Mann, K., Musalek, M., Schuster, A., Lemenager, T., Hanke, S. & Beutel, M. E. (2019). Efficacy of Short-term Treatment of Internet and Computer game Addiction (STICA): A multicenter randomized controlled trial. JAMA Psychiatry, 76(10), 1018–1025.

World Health Organization (WHO) (2019). The ICD-11 Classification of Mental and Behavioral Disorders: Diagnostic Criteria for Research. Geneva, Switzerland.